»Um Innovationen schnell in den Einsatz zu bringen, brauchen wir agilere Formen der Zusammenarbeit«

Welche Beiträge wir als Fraunhofer-Institut leisten können, um den Transfer von Forschungsergebnissen in die praktische Nutzung bei der Bundeswehr voranzutreiben

Frau Dr. Sander, infolge der Zeitenwende gibt es in Deutschland neuerdings viel Zuspruch für Dual-Use-Forschung – steht die Bundeswehr vor einem goldenen Zeitalter technologischer Innovationen? 

Jennifer Sander: Als Fraunhofer IOSB stehen wir wie Fraunhofer insgesamt seit langem für ein ganzheitliches Verständnis von Sicherheit, das militärische, kriminelle, technische und natürliche Bedrohungen gleichermaßen berücksichtigt. In unserer Forschung nutzen wir bewusst Synergien zwischen den verschiedenen Bereichen, und freuen uns, wenn dieser aus unserer Sicht absolut vernünftige Ansatz in unserem Land stärker als bisher konsensfähig wird. Dies auch, da in vielen Bereichen aktuell Forschungsergebnisse und daraus resultierende technologische Innovationen entstehen, die eine hohe militärische Relevanz haben, so dass es wichtig ist, die resultierenden Fähigkeiten auch für die Bundeswehr verfügbar zu machen. Hierzu zählen Künstliche Intelligenz, autonome Systeme sowie Hyperschall- und Quantentechnologien, um nur einige Beispiele zu nennen.

Damit allerdings die Bundeswehr verstärkt und zeitgerecht von derartigen wissenschaftlichen Fortschritten und technologischen Innovationen profitieren kann, fehlt es aus unserer Sicht weniger an zielgerichteter Forschung als an verbesserten Möglichkeiten, vorhandene Forschungsergebnisse in die Praxis zu transferieren.

Das müssen Sie näher erläutern.

Sander: Wir sehen immer wieder, wie schwierig es ist, nützliche Resultate aus dem Bereich Forschung und Technologie, kurz FuT, in die tatsächliche Nutzung zu überführen. Hier gibt es verschiedene strukturelle Faktoren, die das erschweren. So haben wir in der Vergangenheit die Erfahrung machen müssen, dass unsere FuT-Auftraggeber sagten: »Prima, mit dem Thema sind wir fertig, das muss man jetzt in die Anwendung bringen« – wir dann aber aus der Richtung des Beschaffungswesen hörten, es dauere noch einige Jahre, bis sich der entsprechende Bedarf wirklich auftue bzw. ausreichend konkretisieren lasse. Dabei könnte eine schnelle Nutzung der Resultate gerade dazu beitragen, mehr Klarheit über konkrete Einsatzszenarien und Bedarfe zu gewinnen und somit die weitergehende Forderungslage frühzeitig zu präzisieren und aktualisieren.

Wenn der Beschaffungsprozess doch anläuft, bleibt er schwierig und langwierig. Die Anforderungen hier zu Anfang passgenau zu formulieren, setzt zudem schon möglichst gute (auch technische) Kenntnis der Materie, ein Verständnis für die Potenziale und für mögliche Einsatzszenarien voraus. Die Tendenz scheint auch dahin zu gehen, bereits zu Anfang etwas zu formulieren, was man als Goldrandlösung bezeichnen könnte. Dabei ist es ungeheuer schwierig, rein auf dem Papier ein System detailliert so zu spezifizieren, dass es auch wirklich dem späteren Praxisbedarf der Soldaten und ihrer zukünftigen Einsätze entspricht. 

Was schlagen Sie vor?

Sander: Wir brauchen flexiblere, agilere Formen der Zusammenarbeit, um besser dabei unterstützen zu können, Innovationen möglichst schnell und passgenau in den Einsatz zu bringen. Ein Ansatzpunkt könnte sein, die Möglichkeit zur raschen Umsetzung vorwettbewerblicher, einsatzfähiger Prototypen zu bekommen. Gerade bei sich rapide entwickelnden Technologien – wie in den Bereichen KI und autonome Systeme – sollten in einem iterativen Prozess darüber hinaus sehr schnell Lösungen entstehen, die bereits nutzbar sind, während weitergehende oder komplexere Funktionalitäten erst noch entwickelt werden. Wo Co-Creation umgesetzt wird, also eine engere, kontinuierliche Verzahnung von FuE, Industrie und Bedarfsträgern, wo neue technische Möglichkeiten schnell greifbar und für die Nutzer verständlich gemacht werden und diese dann immer wieder Feedback geben können, da gelingt es auch, bedarfsgerechte Lösungen zu entwickeln und umgehend in die Nutzung zu bringen. Außerdem sind natürlich auch modulare Architekturen, offene Schnittstellen und Standards wichtig, damit Systeme interoperabel, erweiter- und anpassbar bleiben. Sonst entstehen proprietäre Lösungen, die eine weitere Hürde für künftige Innovationen und nicht zuletzt auch für die militärische Zusammenarbeit, etwa in der NATO, darstellen.

Gibt es Erfolgsgeschichten, aus denen sich lernen lässt?

Sander: Wir haben am Fraunhofer IOSB diverse System realisiert, die sich bei der Bundeswehr und auch international im Einsatz befinden. Dazu gehört das Videoauswertesystem ABUL, das die Verarbeitung und Auswertung von Drohnenaufnahmen mit vielfältigen und auch immer wieder neuen, teils KI-basierten Assistenzfunktionen unterstützt. Ein weiteres Beispiel ist der Digitale Lagetisch (DigLT), ein Softwaresystem zur verteilten Lagevisualisierung und Lagebearbeitung und ebenfalls seit Jahren gleichzeitig im Einsatz und in der Weiterentwicklung. Als Drittes möchte ich die Coalition-Shared-Data-(CSD-)Technologien nennen, die es möglich machen, Daten in multinationalen und teilstreitkräfteübergreifenden Aufklärungsverbünden zu speichern, abzufragen und zu verteilen. 

An diesem Beispiel lässt sich festmachen, wie man ein agileres Vorgehen gestalten könnte: Man hat schon in der Phase, als die grundlegenden Anforderungen, Konzepte und Spezifikationen erarbeitet wurden, auf internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit und einen Excercise-Driven Approach gesetzt. Operative und technische Stakeholder (Entscheider, Soldaten, Techniker und Softwarespezialisten) haben sich regelmäßig zu Interoperabilitätsübungen getroffen, in denen auch reale Sensoren und Plattformen eingesetzt wurden. Dabei hat man den aktuellen Entwicklungsstand einem Praxistest unterzogen, konnte Unstimmigkeiten, Knackpunkte, Fehlentwicklungen und Verbesserungspotentiale frühzeitig identifizieren und in der folgenden Iteration entsprechend nachjustieren. Die Lösungen konnten so sukzessive verbessert werden, bevor sie in Standards überführt und durch operationell gehärtete Systeme umgesetzt wurden. Es wäre wünschenswert, dass diese Vorgehensweise nun auch bei der Weiterentwicklung der CSD-Technologien und ihrer Konzeptionierung für künftige, neue Einsatzszenarien beachtet würde.      

Sie möchten dieses Vorgehen aber eben auch auf viele andere Bereiche übertragen?

Sander: Ich möchte es etwas allgemeiner formulieren: Eine der Fähigkeiten, die wir seitens Fraunhofer in den Innovationsprozess einbringen können, ist ein agiles Vorgehen, bei dem immer wieder Zwischenstände wie Konzepte, Szenarien oder Prototypen von den Stakeholdern auf ihre Praxistauglichkeit geprüft werden. Ein weiterer möglicher Beitrag gründet in unserer Fachexpertise zu Systemen und deren Interoperabilität: Wir können dabei unterstützen, Kompatibilitätsprobleme möglichst frühzeitig zu identifizieren. Das wiederum hilft, Entwicklungs- und Beschaffungsmaßnahmen belastbarer zu planen und reibungsloser umzusetzen. 

Haben Sie noch weitere Vorschläge?

Sander: Am Fraunhofer IOSB befassen wir uns viel mit Simulationen und Digitalen Zwillingen, auch für das Gefechtsfeld. Anders ausgedrückt: Wir können Lösungen anbieten, um Dinge zu erproben, die real noch gar nicht umgesetzt sind. So lassen sich Einsatzmöglichkeiten, Effizienz, Performance und auch die Interoperabilität von Systemen auch virtuell testen, bevor man sie tatsächlich baut. Dazu kommen viele weitere Vorteile, die so ein Digitaler Zwilling dann noch über den Life Cycle hinweg mit sich bringt, wenn das System einmal real existiert.

Im Stadium jenseits von Simulationen erscheint mir zudem der Ansatz von Reallaboren hilfreich, wie sie unser Institut in verschiedenen Themenfeldern (mit-)betreibt. Ein Reallabor ist ja eine Struktur, um an einem Ort für gewisse Zeit unter möglichst realen Bedingungen neue Dinge zu erproben, die im allgemeinen Rechtsrahmen auf Grenzen stoßen würden. Man klammert also bestimmte schwierige Aspekte zunächst aus, um Innovationen voranzutreiben – und nicht zuletzt, um herauszufinden, wie man diese schwierigen Punkte am besten angehen sollte, um am Ende einen allgemeinen, regulären Einsatz der neuen Technologien zu ermöglichen.

 

Dr. rer. nat. Jennifer Sander ist stellvetretende Sprecherin des Geschäftsfelds Verteidigung und leitet die Abteilung Interoperabilität und Assistenzsysteme (IAS).

Digital technologies for productivity, sustainability, and security

Das obenstehende Interview ist dem Tätigkeitsbericht 2023/2024 des Fraunhofer IOSB entnommen.

 

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